Unzählige Male | travel writing
Cambridge, 2 March 2018
Nach einem vom allgegenwärtigen Schnee zusätzlich in die Länge gezogenen Reisetag bin ich nun in England aufgewacht. In der Küche klimpert Ann mit Geschirr und macht Porridge.
Ich habe den front room rückerobert, was diesmal gar nicht viel Räumerei bedurfte. Mit etwas Selbstbeherrschung habe ich das Staubsaugen auf später verschoben, wenn Ann im department ist. Sie hat sich selbst davon überzeugt (mich nicht), dass es trotz des Schnees sicherer sei, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren als zum Bus zu gehen. Nun steht das Fahrrad tropfend in der Küche, damit die Bremskabel auftauen.
Es war eine merkwürdige Ankunft. Normalerweise durchströmt mich ein unwillkürliches Glücksgefühl, wenn ich plötzlich wieder von echt britischen Akzenten umgeben bin, aber diesmal blieb das im geduldigen Anstehen vor der Paßkontrolle aus. Ist das meine belanglose, persönliche Rache für den Brexit? Dann fragte mich der Grenzbeamte, woher ich angereist und ob ich vorher schon mal in Großbritannien gewesen sei. Ich war für einen Moment zu verblüfft, um zu antworten. Ich habe diesen Ort so lange als ein zweites Zuhause – und oftmal sogar als erste Zuflucht – betrachtet, daß ich mich auf die Ländergrenze erst besinnen musste. Ich bin hier noch nie ausgefragt worden; hier ist doch nicht Amerika! „Inumerable times“, sagte ich. Der border officer war freundlich gestimmt. „Well, you must have been if you know words like inumerable“. Trotzdem. Mein gutes Englisch verdanke ich doch nicht dem Aufenthalt auf diesem Territorium, sondern der Lektüre internationaler Forschungsliteratur, dem zur Hälfte auf Englisch bestrittenen Alltag in einer brandenburger Kommune und dem Umgang mit zwei Linguistinnen. „Inumerous“, korrigierte Ann denn auch, als ich mich über die – für meine verwöhnten Begriffe – verschärfte Grenzkontrolle beklagen wollte. „,Inumerable‘ is only used in cases of infinite instances, which could not technically be counted.“
Dass der city-bus 23 Minuten verspätet angezeigt wurde, veranlasste mich zerfallende Infrastruktur zu wähnen und von meinem letzen Geld ein Taxi zu nehmen. Das Radio lief und es wurde ein neuer Kalter Krieg beschworen. Putin hatte gerade seine Wahlkampfrede mit Videoanimationen ungeahnter Atomsprengköpfe untermalt. Aber „tough“ versicherten unablässig auch alle Seiten in den anstehenden Brexit-Verhandlungen zu sein. Die Rede von „red lines“ klang mir ebenfalls verdächtig nach Militärjargon, aber die spätere Recherche ergab, dass es sich nicht um eine Formulierung aus Stellungskriegen handelte, sondern um willkürliche Grenzziehungen, anhand derer anglo-amerikanische Ölfirmen das zerfallene Ottomanische Reich unter sich aufteilten. Auch nicht besser.
Wahrscheinlich auch, weil ich müde war und mein entzündeter Fuß pochte, befiel mich plötzlich eine tiefe, nüchterne Mutlosigkeit. So lange dieses Bild von Stärke und Ordnung verfängt, so lange können wir doch nicht im Traum daran denken, daß irgendein Wandel zum Besseren greifen könnte.
Schließlich war ich dann in Anns Küche gelandet, wo der vertraute eisige Wind durch die angeblich gesetzlich vorgeschriebenen Lüftungsschlitze in der Außenwand zog. Ann gab mir einen Whisky und eine Wolldecke und als ich fragte, ob sie die deprimierenden Nachrichten gehört habe, sagte sie nur „Oh, you mean Putin boasting about his penis?“
Endlich fühlte es sich nach Heimkehr an.